Der folgende Artikel, der im August 1982 (!) in der radikal Nr. 107 (S.11) erschien, liest sich insbesondere mit seiner anarchistischen Staatskritik an Israel auch heute noch als ein aktueller Text. Mit den nachfolgenden Anmerkungen könnte er als Beitrag zu (möglicherweise doch noch stattfindenden) Grundsatzdiskussionen über den Nahost-Konflikt geeignet sein.
Going to Zion
And if you follow politicans you will never come at all
(Jimmy Cliff)
Ich bin gegen die Existenz von Staaten, insofern nicht nur gegen den Staat Israel sondern auch nicht für einen palästinensischen Staat. Das Existenzrecht der Palästinenser wie der im Nahen Osten lebenden Juden muss ohne Staaten gesichert werden können. Bzw. meine These ist: Solange es in Palästina Staaten gibt, wird es Krieg geben. Das Problem ist der Zionismus. Aber der Zionismus ist eine Reaktion auf ein anderes Problem: den Antisemitismus. Dass der Zionismus unter umgekehrten Vorzeichen zu denselben Konsequenzen führt, wie der Antisemitismus, lässt die Parteinahme im gegenwärtigen Vernichtungsfeldzug des israelischen Staates gegen die Palästinenser leicht fallen, eine Lösung des zugrundeliegenden Konflikts ist damit noch nicht in Sicht. Israel ist zionistisch, aber der Gedanke des Zionismus geht in der Politik des Staates Israel nicht auf. Ich glaube, dass der propagandistische Gebrauch des Begriffs „Zionismus“ durch die Linke nur zur Aufrechterhaltung der Gründe des Konflikts beiträgt.
Der Zionismus entstand Ende des 19. Jahrhunderts, als es in ganz Europa eine Nationalstaatenbewegung gab. Bereits der Sozialist Moses Hess hatte 1862 für den Wiederaufbau eines jüdischen Nationalstaates im Nahen Osten plädiert. Die tragenden Ideen des Zionismus wurden aber erst 1896 von Theodor Herzl in „der Judenstaat“ entwickelt und 1987 auf dem 1. Zionistischen Weltkongress fixiert. Das Ziel war „dem jüdischen Volk eine durch das öffentliche Recht garantierte Heimstatt zuzusichern“. Wie Moses Hess vertrat auch Herzl anfangs die These, dass die Juden sich assimilieren sollten. Erst die zahlreichen brutalen Pogrome in Polen und Russland sowie der Eindruck der Dreyfus-Affäre machten ihn zum geistigen Vater des Zionismus, dessen Massenbasis ohne diese Pogrome unvorstellbar gewesen wäre. Massenhaft begannen sich die Juden mit dem Wunsch zu identifizieren in das gelobte Land, Eretz Israel, zurückzukehren. Seit dem niedergeschlagenen Aufstand in Judäa gegen das Römische Reich (70 n. Chr.) und der 2. Zerstörung des Tempels in Jerusalem lebten die Juden in der „Diaspora“, zerstreut in aller Welt. Über die Jahrhunderte haben sie ihre kulturelle, d.h. vor allem ihre religiöse Eigenart bewahrt. Für die Völker, unter denen sie lebten, blieben sie Fremde, immer wieder verfolgt und erniedrigt.
Aufklärer, Humanisten und Marxisten haben zur Lösung der „Judenfrage“ vorgeschlagen: Assimilation. Viele Juden wollten diesen Weg gehen. Aber selbst ihnen gelang es nicht, sich vor Verfolgung zu schützen. Immer wieder wurden sie mit denen identifiziert, die ihre kulturelle Identität weiterhin bewahren wollten. Die Assimilationspolitik ist nichts anderes als sublimer Judenhass: sie will die kulturelle Andersheit vernichten! Der Wunsch der Juden, in dem Land, das sie als ihre Heimat betrachten, ohne Bedrohung und ohne Preisgabe der eigenen Kultur zusammenzuleben, ist nur verständlich und sollte von jedem der das Recht der Palästinenser in Palästina zu leben vertritt, anerkannt werden. Dieser Wunsch bindet viele Juden an den Zionismus.
Das Problem beginnt, wo dieser Wunsch durch einen Staat realisiert werden soll, der Grenzen um ein Land zieht, innerhalb derer er seine Prinzipien zur Herrschaft bringt. Zumal in einem Land, wo bereits noch andere – nämlich die Palästinenser – leben. Die Palästinenser zu assimilieren wäre absurd, da der jüdische Staat Reaktion auch gegen Assimilationszwang sein sollte. Zudem wird dies natürlich weder von Israel noch von den Palästinensern gewollt. Die Vereinnahmung des Wunsches nach Land zur Ermöglichung der kulturellen Autonomie wird solange durch Staatsinteressen möglich sein, solange dem Antisemitismus nur seine Variante, der Assimilationszwang gegenübergestellt wird. Der Zionismus war immer mit dem Staatsgedanken verknüpft und hat seit Beginn mit imperialistischen Mächten kooperiert oder zu kooperieren versucht. Aber die mit ihm verknüpfte und von ihm vertretene Idee ist für viele Juden eine existenzielle Frage. Dass diese mit dem Gebrauch des Begriffs Zionismus durch die Linke nicht ignoriert oder verdammt wird, ist Voraussetzung dafür, dass dem israelischen Staat seine Massenbasis gänzlich entzogen wird. Der Begriff „Zionismus“ hat für viele den gleichen Stellenwert wie „Yankee-Imperialismus“ oder wie der „Satan“ für die Christen. Ohne ein Konzept, das sowohl Palästinensern wie auch Juden politische und kulturelle Autonomie – in derselben Region! – sichert, wird es keinen Frieden geben.
Nieder mit allen Staaten!
Für kulturelle Autonomie!
Joseph
Aus radikal Nr. 107, August 1982, S. 11.
[Die Rechtschreibung habe ich dem aktuellen Standard angepasst und lediglich zwei Tippos korrigiert.]
Anmerkungen zu „Going to Zion“…
Auch wenn der Autor den historischen Hintergrund des weit über 100 Jahre alten Konflikts nur sehr verkürzt darstellt, ergibt sich daraus kein Nachteil zu seiner Argumentation gegen jedwede Staatenlösung. Die skizzierte Lösung nicht-staatlicher Regionalzusammenschlüsse mit Bewahrung jeglicher kulturellen Autonomie mag für damals wie heute unrealistisch erscheinen, aber als Fernziel deklariert ergibt dies einen vertretbaren politischen Kompass, aus meiner anarchistischer Sicht, den einzig richtigen für eine nachhaltige Lösung.
… zum Kontext vom August 1982
Zum historischen Hintergrund: Einen Monat vor Erscheinen der radikal Nr. 107 begann am 6. Juni 1982 der damalige Libanonkrieg mit dem Einmarsch der israelischen Armee[1]. Auch in Westdeutschland sorgte das für Proteste, wobei sich in der radikalen Linken insbesondere bei den sog. Antiimps extrem polarisierte Positionen herausbildeten, die für viele Linke schwer zu ertragen waren.
Einen Monat nach Erscheinen des obigen Artikels ereignete sich vom 16. – 18. September 1982 das von der israelischen Armee gedeckte Massaker von Sabra und Schatila durch Milizionäre der Phalange, einer libanesische politische Partei, die aus der maronitisch-christlichen nationalen Jugendbewegung hervorgegangen ist[2].
… zur Polarisierung
Ab diesem letzteren Punkt der Eskalation entwickelte sich in der damaligen radikalen Linken in Westdeutschland eine extreme Polarisation der Standpunkte und Parteinahmen, die der aktuellen Polarisation seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in nichts nachsteht: „Zionismus“ verkam damals schon teilweise zu einem Synonym für „Faschismus“ und die Empörung führte bei vielen Autonomen und v.a. in Antiimp-Kreisen zu einem solchen Hass auf Israel, dass der in der Wortwahl und den politischen Aussagen dazu teilweise nur noch als (linker) Antisemitismus zu klassifizieren ist.
In den 1990ern schlug das Polarisationspendel stärker zur anderen Seite um. Die Antideutschen[3], die ihre Staatsliebe zu Israel und sogar zu dessen imperialistischen Beschützer USA entdeckten, dominierten nun viele innerlinke Diskurse, durchgehend äußerst autoritär: Die Ohnmächtigen entdeckten ihre Lust an dem Machtpotential einer alles, auch rationale Diskurse erschlagenden Antisemitismuskeule. Der grundsätzlich autoritäre Charakter manifestierte sich dann auch in entsprechenden autoritären Inhalten einschlägiger Magazine wie Konkret, Jungle World & Co.bis hin zur Bahamas, die dann im weiteren Verlauf, zusammen mit ihrem Mitherausgeber Jürgen Elsässer einen politisch extremen Rechtsschwenk durchführten.
Sich bei so einem Konflikt nur auf eine Seite zu stellen und im Wahn eines vom System auch in linken Kreisen reproduzierten binären Denkens hier „die Guten“ ODER „die Bösen“ zu identifizieren, führt nicht nur zu einer verzerrten Sicht auf die Welt, sondern torpediert die Grundwerte der politischen Linken und deren Wurzeln in der Aufklärung.
… zum Wesen des Krieges
Was mir hier und auch in vielen anderen Texten der damaligen radikalen Linken und ihrer heutigen Nachfolger*innen fehlt, ist ein ausformuliertes Verständnis für die Dynamik von Eskalationen der Gewalt: Wie jede Kinder erziehende Person es in der Praxis erfährt und solche Dynamik sich auch in großen politischen Dimensionen reproduziert, schaukelt sich ein kriegerisch angelegter Konflikt aus beidseitigen Vorurteilen, aus Kommunikationsunfähigkeiten über anfangs noch kleine Anlässe und Übergriffe immer weiter hoch, „bis eine* weint oder blutet“. Da nahezu alle Gesellschaften dieses Planeten Kriegerkulturen sind, die keine Fähigkeiten für radikale (an der Wurzel ansetzende) Konfliktlösung besitzen, werden solche ungelösten Konflikte stets zu neuen kriegerischen Handlungen führen, zu kriegerischen „Antworten“ auf die letzten Antworten des Feindes.
Der Logik des Krieges folgend, können solche Konflikt nur durch die völlige Vernichtung „des Feindes“ (je nach Blickwinkel) beendet werden. Zu Ende gedacht würde eine solche ein solches Ausmaß an Gründlichkeit der Ausrottung erfordern, das im Vergleich selbst die industrielle Vernichtung der Juden durch die Nazis noch ungenügend erscheint. So etwas wird jedoch nie völlig gelingen, realistisch gesehen wird es Überlebende geben, die dann wieder kriegerische „Antworten“ finden werden.
… zum Kontext des 7. Oktober 2023
Wie so oft kann sich auch in diesem Konflikt keine Seite als reines Opfer darstellen, alle waren abwechselnd und in unterschiedlichem Maße gewalttätige Akteure. Und nur so ist auch der oft gegen eine Schwarz-Weiß-Darstellung des Gaza-Krieges geäußerte Einwand zu verstehen, dass es für das Massaker vom 7. Oktober einen „Kontext“ gibt, dass es eine nicht unbedeutende Vorgeschichte vor dem 7. Oktober gibt und dass solch ein Verweis keinesfalls dieses Massaker legitimiert, auch nicht als irgendwie berechtigte Widerstandhandlung.
Solch eine Kontextualisierung als „antisemitische Rechtfertigung“ für das Massaker zu diffamieren, verhindert nicht nur einen vernünftigen, d.h. dialektischen und der Aufklärung verpflichteten politischen Diskurs, viel schlimmer noch führt dieses Schwarz-Weiß-Denken mit seinem unsachgemäßen Gebrauch der Antisemitismuskeule zu einer Entwertung jeder Antisemitismuskritik und fördert damit genau das, was es zu bekämpfen gilt.
… zum Beginn der Einwanderungen
Auch der Vorwurf eines israelischen Kolonialismus ist berechtigt: Es ist gewiss nicht so, dass Anfang des 20. Jahrhunderts einige Zionist*innen zu den Palästinenser*innen gegangen sind und vorgeschlagen haben, „Hey, lasst uns hier zusammen in Frieden leben und gemeinsam die kolonialistischen Briten abschütteln und an unserer gemeinsamen Sicherheit für ein gleichberechtigtes Leben in Wohlstand für alle arbeiten!„. Stattdessen dominierten unkooperative Handlungen und Strategien, die der Kriegslogik folgend dann – befeuert durch die Judenverfolgung der Nazis – auch auf der militärische Ebene durch die Irgun[4] und später die Hagana[5] weiter geführt wurden.
Ein solidarischer Ansatz wäre nicht nur trotz, sondern auch gegen einen arabischen Antisemitismus, der auch damals in der arabischen Bevölkerung verbreitet war, ethisch und in der direkten und politischen Wirkung besser gewesen: Eine solidarische Haltung und eine Praxis, die Solidarität erfahrbar macht, wären die wirksamste Politik gegen die Eskalation des Antisemitismus gewesen, die die kolonialistisch orientierte, antisemitische und zutiefst rassistische britische Führung 1921 durch die Inthronisierung von Mohammed Amin al-Husseini als Mufti von Jerusalem und damit zum von außen bestellten Führer der Palästinenser befeuert hatten[6].
… zu Friedenspolitik
Die Friedensbewegung der 1980er hat mich u.a. gelehrt, dass Friedenspolitik nicht erst nach Ausbruch eines Krieges ansetzen muss, da es dann dafür zu spät ist. In all den kriegsfreien Zeiten davor, die übrigens keinesfalls den Begriff „Frieden“ verdienen (denn Frieden ist nicht nur die schlichte Abwesenheit von Krieg), hätte sich sowohl die israelische wie auch palästinensische Gesellschaft intensiv mit einer grundsätzlichen Konfliktlösung beschäftigen müssen, anstatt die bestehenden ethnischen Konfliktlinien zu manifestieren und zu stärken. Aber auch die Konfliktlinien zum Kapitalismus, zum Patriarchat und allen anderen Unterdrückungsformen, die sich – obwohl sie massive Treiber dieser Kriege sind – hinter dem Geschehen verstecken, müssen thematisiert und Lösungswege aus diesen Krisen ausgearbeitet werden. Wenn dies auch diesmal verpasst wird, dreht sich dieses elendige Rad immer weiter.
In diesem Sinne kann eine solidarische Unterstützung nur den Protestierenden gegen die rechtsextreme israelische Regierung und den gegen die Hamas protestierenden Palästinenser*innen[7] gelten.
Dancing Bull
28.03.2025
[3] Siehe https://shaunss.wordpress.com/wp-content/uploads/2012/11/mohr-and-haunss-2004-die-autonomen-und-die-anti-deutsche-frage.pdf
[7] Es gibt inzwischen auch in Gaza Proteste gegen die dort Herrschenden, die Hamas: https://taz.de/Proteste-im-Gazastreifen/!6074939/